Mehrere Aktivisten:innen klagen vor dem Amtsgericht Berlin für das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, aber auch um ein erneutes Verbot der Nakba-Demos zu verhindern.
Ende April 2022 verbot die Polizei Berlin alle Solidaritätskundgebungen mit Palästina, die traditionell am 15. Mai an die palästinensische Nakba erinnern. Ebenfalls wurde die Mahnwache zur Ermordung der palästinensischen Journalistin Sheerin Abu Akleh, die von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten organisiert wurde verboten. Viele Palästinenser:innen und Aktivist:innen in Berlin entschieden sich dennoch dafür, auf besondere Art und Weise zu protestieren und damit ihrer Ablehnung des Verbots zum Ausdruck zu bringen. Anstatt zu demonstrieren, haben sie am 15. Mai 2022, der Jahrestag der Nakba, die traditionell palästinensische Kufiyah oder die palästinensische Flagge, einfach im Alltag in der Öffentlichkeit getragen.
Als Reaktion nahm die Berliner Polizei 115 Personen aufgrund der “Teilnahme an einer illegalen Veranstaltung” fest, 25 der festgenommenen Personen erhielten Geldstrafen in Höhe von insgesamt 8.269,50 Euro. Während bei einigen die Bußgelder nach dem ersten schriftlichen Widerspruch fallen gelassen wurden, zogen es andere vor, das Bußgeld zu zahlen, um “Schwierigkeiten mit den deutschen Behörden” zu vermeiden. 12 Aktivist:innen entschieden sich jedoch für den Weg zur Justiz.
Betroffene mit verschiedenen Backgrounds und gemeinsamen Ziel
Diese 12 Aktivist:innen haben sich zusammengeschlossen und auf nakba-ban.org einen Statement veröffentlichten:
“Am 15. Mai 2022 startete die Berliner Polizei nach einem stadtweiten Verbot von Gedenkfeiern zum 74. Jahrestag der Nakba eine Reihe von Repressionen gegen Palästinenser*innen und ihre Unterstützer*innen. Aktivist*innen und Unbeteiligte wurden in verschiedenen Teilen der Stadt verhaftet. Am Ende des Tages nahm die Polizei 27 Aktivist*innen in Gewahrsam und verhängte gegen 25 von ihnen Geldstrafen in Höhe von insgesamt 8.269,50€. Viele von ihnen fechten die Bußgelder nun vor Gericht an. Mit diesem Vorgang erreicht die Kriminalisierung der Solidarität mit Palästina durch die Berliner Regierung eine neue Eskalationsstufe. Das ist auch Ausdruck eines umfassenden Angriffs auf die demokratischen Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit.[...]
Deshalb organisieren wir - Aktivist*innen, Organisator*innen und Bürger*innen aus Deutschland, den Vereinigten Staaten, Polen, Syrien und Palästina, christlichen, muslimischen und jüdischen Glaubens, sowie nicht-Gläubige gleichermaßen - uns, um uns zur Wehr zu setzen. Wir unterstützen die, die am Nakba-Tag Repressionen ausgesetzt waren. Wir unterstützen die, die Solidarität mit Palästina in Berlin aufbauen und sich gegen die Versuche Deutschlands stellen, die palästinensische historische Erinnerung zu beseitigen.
Demonstrationen, die dieses Jahr in Berlin die Nakba thematisieren, müssen stattfinden dürfen und Deutschlands Vorstöße zur Kriminalisierung der Palästinasolidarität müssen enden. Wir laden progressive Kräfte aus der ganzen Welt ein, sich unserem Aufruf anzuschließen.”
Das Statement kann von allen Unterstützer:innen hier unterschrieben werden.
Plötzlich eingekesselt ohne Vorwarnung
Zwei dieser Aktivist:innen, Matilda* “Deutsche Studentin” und Khaled* “Palästinensischer Flüchtling, ebenfalls Student”, so wie andere Aktivist:innen entschieden sich an diesem Tag durch Neukölln zu ziehen, wo eine große arabische Community lebt und sich zahlreiche arabische Restaurants und Geschäfte befinden. Beide trugen die palästinensische Kufiyah, als Ausdruck ihrer Ablehnung der Polizei-Entscheidung, die Demonstrationen zum Jahrestag der Nakba zu verbieten.
Khaled erzählt mir, er sei gemeinsam mit Matilda in einem Lokal in der Sonnenallee Kaffeetrinken gewesen, danach hätten sie einen kurzen Rundgang in der Gegend gemacht, dann entschieden sie sich, zum Hermannplatz zu gehen, wo normalerweise viele Veranstaltungen und Aktivitäten stattfinden. Er sei jedoch schockiert über die sehr große Präsenz von Hunderten von Polizist:innen und Dutzenden ihrer Fahrzeuge gewesen, ebenfalls über die Anwesenheit einiger Journalist:innen, als würden sie auf etwas warten.
“Uns ist beim Umherlaufen direkt aufgefallen, dass die Polizeipräsenz an diesem Tag noch höher war als sonst.” erzählt Matilda. “Wir wollten mit Freund:innen Schawarma essen gehen und haben uns dazu auf dem Hermannplatz getroffen. Überall waren Mannschaftswagen und Polizist:innen in schweren Schutzanzügen. Doch bevor wir den Platz wieder verlassen konnten, wurden wir plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung von der Polizei eingekesselt.”
“Miserable Komödie”
Joe* “US-amerikanischer Jude” sei an diesem Tag in Begleitung von drei anderen jüdischen Freund:innen unterwegs gewesen, sie hätten bereits vom Verbot der Demos erfahren und da sie alle in der Nähe vom Hermannplatz leben, hätten sie beschlossen, dorthin zu gehen, um zu schauen, was so passieren könnte. Er erzählt: “Als wir uns näherten, sahen wir Hunderte von Polizist:innen, einige in Einsatzkleidung, herumstehen, aber keine offensichtlichen Ansammlungen von Menschen. Gelegentlich schnappte sich die Polizei jemanden, der eine palästinensische Fahne trug, und nahm ihn manchmal mit Gewalt fest.”
Joe berichtet von sehr chaotischen Zuständen. Als er und seine Freund:innen sich Richtung Mitte des Platzes bewegten, um das Geschehen näher zu verfolgen, seien sie plötzlich und ohne jede Vorwarnung oder Angaben von Informationen von der Polizei festgenommen worden. Die Polizei hätte sie in einen umgestellten Kessel gebracht, wo sich andere Festgenommenen aufgehalten hätten. Die Polizei sei bei den Verhaftungen planlos vorgegangen, unter den Festgenommenen seien sogar Familien und einkaufende Leute gewesen.
“Wir wurden nicht mal über den Grund informiert. Im Kessel waren vor allem Menschen, die Kufiyah trugen oder als Arabisch gelesen wurden. In den ersten Minuten wurden ein paar arabische Menschen nachträglich in den Kessel gezogen, die gerade erst von der U-Bahn kamen oder außerhalb des Kessels standen.” kommentiert Matilda.
Verhaftungen seitens der Polizei seien chaotisch und zum Teil gewalttätig gewesen, teilt mir Khaled mit und schildert: "Das war eine miserable Komödie, da jeder ohne nennenswerte Hindernisse in den Kessel reinkommen konnte, jedoch nicht raus. Wir waren ungefähr 30 Personen für etwa zwei Stunden im Kessel eingeschlossen. Der eine kam und versorgte seine Freundin mit Fläschchen Mineralwasser, aber die Polizei weigerte sich, ihn aus dem Kessel frei zu lassen, er wurde also mit uns festgenommen. Die Polizei ging gegen einige während der Festnahme brutal, insbesondere diejenigen, die Kufiyahs trugen, sie wurden gewaltsam in Polizeifahrzeuge gezerrt.”
Und erzählt weiter: “Nach etwa zwei Stunden teilten sie uns mit, wir hätten an einer illegalen Versammlung teilgenommen und wir müssten einer nach dem anderen mitkommen, damit sie unsere Daten registrieren, entweder freiwillig oder mit Zwangsmaßnahmen.”
“Racial Profiling”
Matilda verweist auf Polizeimeldungen, die von “hoher Emotionalität” auf den Palästina-Demos berichten, was ihrer Meinung nach die rassistische Sicht der Berliner Polizei auf arabische Menschen deutlich macht. Sie fragt verwundert: “Demonstrationen sind immer emotional, aber die Emotionalität von Deutschen gilt als legitim, während die Emotionalität von Araber:innen mit Gewaltbereitschaft gleichgesetzt wird?”
“In Neuköln leben und arbeiten viele Palästinenser:innen. Es gibt hier auch zwei sogenannte [Kriminalitätsbelastete Orte], an denen die Berliner Polizei Sonderrechte hat und zum Beispiel Menschen [verdachtsunabhängig] kontrollieren darf. Es ist mehr als bekannt, dass die Polizei in diesen Gebieten die rassistische Taktik des Racial Profiling anwendet.” erklärt Matilda.
“Ich werde für etwas bestraft, was ich nicht begangen habe”
In diesem Zusammenhang erzählt Khaled: “Ich war mehrfach Zeuge von Polizeigewalt in Syrien, aber auch hier in Deutschland. Wenn es um Palästina in Deutschland geht, erhöht sich die Polizeigewalt, wie ich es bei verschiedenen Demonstrationen beobachtete.”
“Die Zukunft in Berlin verheißt nichts Gutes.” fürchtet der palästinensische Flüchtling Khaled und fügt hinzu: “Es beunruhigt mich sehr, wenn ich daran denke, dass ich für etwas bestraft werde, das ich gar nicht begangen habe! Die Kriminalisierung palästinensischer Stimmen in Deutschland wird gesetzeskonform legalisiert.”
Joe bestätigt, was Khalid und Matilda von Polizeigewalt berichten und sagt: “Ich bin hellhäutig, die Polizisten:innen gingen mit mir viel sanfter um, als mit Leuten, die sichtbar nicht deutsch aussahen, mit dunklerer Hautfarbe.”
Und erzählt weiter: “Ich habe mindestens zwei Fälle gesehen, in denen Personen mit einer palästinensischen Fahne oder einer Kufiyah einfach angegriffen oder anderweitig stark angegangen wurden.”
Palästinensische Stimmen werden aus der Öffentlichkeit verbannt
Die Polizei hätte danach die Festgenommenen fotografiert und ihre Daten aufgenommen, nachdem sie mit “Zwangsmaßnahmen” gedroht hätten, falls die Festgenommenen nicht kooperieren würden, teilten mir die Aktivisten:innen mit. Sie seien wie “Kriminelle” von der Polizei behandelt worden. Jene, die im Viertel leben, dürften ihre Wohnungen innerhalb der nächsten 24-Stunden nur für Notfälle verlassen, andere bekämen 24-stündigen Platzverweis für Kreuzberg und Neukölln.
“Offiziell dient dieses Mittel der Abwehr einer Gefahr oder Verhütung einer Straftat (§ 29 ASOG Bln). Ich finde, das sagt viel über den Umgang mit Palästinenser:innen und solidarischen Menschen in Berlin aus, dass allein unsere Anwesenheit kriminalisiert und als Bedrohung der [öffentlichen Sicherheit und Ordnung] gewertet wird.” merkt Matilda an.
Die Aktion sei ein Einschüchterungsversuch und eine Machtdemonstration der Polizei gewesen. Im Endeffekt sei es eine logische Konsequenz der vorherrschenden deutschen Politik, die mit aller Macht versuche, die Sichtbarkeit palästinensischer Stimmen aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Stellt sie fest.
25 der insgesamt 115 Personen, die am 15.05.2022 zum Gedenktag der Nakba von der Berliner Polizei festgenommen wurden, bekamen später aufgrund “Teilnahme an einer illegalen Veranstaltung” Bußgelder.
Matilda, Khalid, Joe und weitere neun Personen entschieden sich, das auf über 300€ pro Person geschätzte Bußgeld vor Gericht als Protestaktion gegen die Festnahme und Gewalt anzufechten, aber auch ihre deutliche Ablehnung des Demoverbots zum Ausdruck zu bringen, da das Grundgesetz die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit garantiere.
“Palästinenser:innen als Instrument deutscher Vergangenheitsbewältigung”
Joe erzählt mir von seiner Sicht als jüdischer Aktivist: “Viele Politiker:innen in ganz Europa würden Israel bewusst mit den Juden:Jüdinnen gleichsetzen, eine faschistische Politik verfolgen, rassistische und antisemitische Sprache verwenden und starke Beziehungen zu Israel unterhalten. Auf diese Weise würden sie jeden Antisemitismusvorwurf vermeiden, wie etwa der ungarische Präsident und Rechtsextremist Viktor Orban, ein enger Freund des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu.”
Er merkt an, dass sie ihren Rassismus unter dem Deckmantel der ‘Antisemitismusbekämpfung’ gegen Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere Muslim:innen, praktizieren würden. Und fügt hinzu, in Deutschland lebende Palästinenser:innen würden als Instrument deutscher Vergangenheitsbewältigung benutzt.
Joe erkennt ausdrücklich, dass Palätinenser:innen jedes Recht der Nakba zu gedenken und sich politisch auszudrücken hätten, und merkt an: “Das Verbot jeglicher Israelkritik spielt antisemitischen Verschwörungstheoretiker:innen in die Hände [warum dürfen wir Israel nicht kritisieren? Es muss eine jüdische Verschwörung sein!] und gefährdet damit Juden:Jüdinnen mehr, als es ihnen hilft”.
Matilda sieht es ähnlich und stellt fest, dass Israel und Judentum in Deutschland zunehmend gleichgesetzt würden. Geopolitische und wirtschaftliche Interessen würden über die Menschenrechte und das Leben der Palästinenser:innen gestellt. Andererseits bemerkt sie eine wachsende Solidarität mit den Palästinensern:innen, und dass dank palästinensischem Aktivismus weltweit und der Dokumentationen und Veröffentlichungen von Verbrechen der israelischen Besatzung im Netz immer mehr Menschen die deutsche Politik gegenüber Israel hinterfragen würden.
Sie deutet auf die Bildung eines bemerkenswerten Bündnisses in Berlin hin und sagt: “Die palästinensische Diaspora wächst in Deutschland und auch jüdische Gruppen wie die ‘Jüdische Stimme’ oder der ‘Jewish Bund’ helfen sehr dabei, dass immer mehr Deutsche ihren Standpunkt überdenken.”
Das Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit
Die Gerichtsverfahren begannen Mitte Februar 2023. Zum ersten Prozess erschienen viele solidarische Aktivist:innen, die das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung bekräftigten und das Verbot der Nakba-Demonstrationen ablehnten. Während Matilda und Khaled auf ihre Gerichtsverfahren noch warten, endete Joe’s Prozess mit der Einstellung des Verfahrens.
Das Demonstrationsverbot würde die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht fördern, argumentierte Joe in seiner Gerichtsverhandlung, und dass es eine rassistische Frechheit sei, dieses Recht den eindeutig antisemitischen Nazis eingeräumt wird, während es für das Gedenken der Nakba verboten würde.
“Ich sagte ihnen, dass ich Jude bin und wenn sie mich für schuldig befinden würden, dann würde ein deutsches Gericht einen Juden wegen [Antisemitismus] zu einer Geldstrafe verurteilen. Ich bat darum zu erklären, was mit [Demonstration] gemeint sei, ob es sich um den [Spaziergang] rechter und faschistischer Gruppen vor paar Monaten handelte, bei dem die Polizei nicht eingriff. Hier wurde der Richter rot.”
Joe wollte ein Statement vor Gericht vorlesen welches er vorbereitet hatte, in dem er seinen Standpunkt als Jude in Deutschland zum Demonstrationsverbot und dem Rassismus, den Palästinenser:innen unter dem Deckmantel der ‘Bekämpfung des Antisemitismus’ erleben würden, klarstellt. Die Verhandlung dauerte jedoch höchstens 30 Minuten, weswegen es nicht möglich gewesen sei, es vorzulesen, obwohl der Richter aus Neugier einen Blick darauf geworfen habe.
Drei weitere Gerichtsverfahren von zwei Palästinenser:innen und einem Syrer wurden vertagt, da erst die Zeugenaussagen von Polizeibeamt:innen und anderen Zeugen angefordert wurden, um mehrere Details zu überprüfen, einschließlich der Frage, ob die Polizei wirklich darum gebeten hätte, den Platz am Nakba-Gedenktag zu verlassen, bevor sie die Aktivisten:innen einkesselte. Eine Diskussion welche in Joes Gerichtsverhandlung nicht thematisiert wurde, da der Prozess sehr schnell entschieden und eingestellt wurde.
“Ich dachte, nichts mehr würde mich schockieren, egal wie ungerecht die Entscheidungen, die gegen Palästinenser:innen von den deutschen Behörden erlassen werden, sein mögen, ich lag definitiv falsch. Als Palästinenser, der im Flüchtlingslager Yarmouk in Syrien aufwuchs und lebte, und vom syrischen Regime unterdrückt wurde, kenne ich dieses Gefühl. Ich hatte ähnliche Angstgefühle. Wie dürfe ich nicht demonstrieren?! Wie?!” erzählt Khaled mit Blick auf sein anstehendes Gerichtsverfahren. Zudem macht ihm die Logik und die Argumentation hinter dem Demonstrationsverbot Angst, weil es immer wieder willkürlich angewendet werden könnte. Die Polizei muss nur behaupten, es könnte zu antisemitischen Vorfällen kommen um eine Demonstration oder Kundgebung zu verbieten. Khaled hat kein positives Gefühl, aber er wird trotzdem zur Verhandlung gehen und alles erzählen, genau so wie es passiert ist, “ohne wenn und aber”.
*Die Namen der drei Aktivisten:innen wurden zum Schutz ihrer Identität geändert.
Edited by: Dan Weissmann