Berlin bekämpft die palästinensische Sichtbarkeit und Solidaritätskundgebungen mit beispielloser Aggressivität
Singen für Palästina, Dabke tanzen und sogar Wassermelonen waren betroffen. sieben Veranstaltungen wurde das Versammlungsrecht untersagt. Berichte über Einschüchterung, Überwachung und Polizeigewalt.
Rätselhaftes Video
Die Argumentation der Berliner Polizei für die Verbote kann in zwei Punkten zusammengefasst werden: „Gewaltbereitschaft“ und „Volksverhetzung durch mögliche antisemitische Ausrufe”. Während sich die Polizei im ersten Punkt ihren Angaben zufolge auf frühere Zwischenfälle beruft, stützt sie sich im zweiten Punkt auf ein in den sozialen Medien verbreitetes Video aus einer Demonstration vom 8. April, in dem der Satz „Tod den Juden“ undeutlich und einmalig zu hören ist. Ausgesprochen von einer einzigen Person, die im Video nicht zu erkennen ist. Obwohl die Demo-verantwortliche Gruppe Samidoun in einer Stellungnahme deutlich machte:
“Die Identität dieser Person ist völlig unklar, ebenso wie ihr Grund für diesen Ruf oder ob sie überhaupt an der Demonstration teilgenommen hat. Eines ist klar: Sie hatte nichts mit der Organisation, Leitung, Führung oder dem politischen Rahmen der Mobilisierung zu tun, und diese Aussage spiegelt nicht unsere klare antirassistische, antikoloniale Vision für ein befreites Palästina wider”.
Trotzdem hörten die Denunziationen und Hetze gegen pro-palästinensische Versammlungen auf medialer und politischer Ebene nicht auf und gipfelten damit, dass die Berliner Polizei drei Versammlungen verbot, die in Solidarität mit palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen am Jahrestag des palästinensischen Gefangenen für den 15. 16. und 17. April geplant waren.
Schwarzgekleidete Personen mit Kameras
Die Aktivist:innen von Nakba75 bekräftigen mir gegenüber ihre volle Solidarität mit Samidoun und allen Palästinenser:innen, die in Deutschland von Repression und anti-palästinensischem Rassismus betroffen sind, und verweisen im Zusammenhang mit dem verbreiteten Video auf die Anwesenheit von schwarzgekleideten Personengruppen, die mit hochwertigen Kameras illegale Nahaufnahmen der Gesichter der Demonstrant:innen auf pro-palästinensischen Versammlungen machen, und sich auf Nachfrage weigern, einen Presseausweis vorzuweisen oder ihre Zugehörigkeit zu einer Medieninstitution anzugeben.
Das machte auch ein Video des jüdischen Filmemachers Dror Dayan deutlich, in dem er vergeblich versucht, mehrere in schwarz gekleidete Personen auf einer Kundgebung nach deren Identität zu fragen. Und obwohl Dayan ihnen deutlich macht, dass er sich als jüdische Person bedroht fühlt, da schwarzgekleidete Deutschaussehende Menschen ihn die ganze Zeit filmen, bekommt er keine Antwort.
Dayan erzählt mir, wie diese Personen oft auf pro-palästinensischen Versammlungen miteinander arbeiten und von einer Person kommandiert werden. Er habe das Gefühl, es handle sich um den absichtlichen Versuch der Einschüchterung, den Teilnehmer:innen Angst einjagen und das Gefühl vermitteln, ständig überwacht zu werden. Außerdem könne es für Personen mit einem prekären Aufenthaltsstatus schwere Konsequenzen haben, wenn ihnen durch zusammengeschnittene Videos gewisse Vorwürfe unterstellt würden. Zudem beteuert Dror:
„Als jüdische Person fühle ich mich da vor allem ausgenutzt: es ist mir klar, dass sie - allen Anschein nach hauptsächlich Deutsche - mich und meine Genoss:innen im Namen der (Kampf gegen Antisemitismus) und (Schutz jüdischer Leben) schikanieren und bespitzeln. Dabei geht es ihnen allein um den Zionismus, die Sicherheit jüdischer Menschen in Deutschland interessiert sie einen Scheißdreck“.
Sieben Versammlungen verboten
Das Verbot pro-palästinensischer Versammlungen in Berlin beschränkte sich nicht allein auf die Solidaritätsveranstaltungen mit den palästinensischen Gefangenen im April, sondern erstreckte sich auf vier weitere Versammlungen im Mai, die an den 75. Jahrestag der Nakba erinnern sollten. Eine davon war eine Wassermelonen-Aktion am Brandenburger Tor, die vom palästinensischen und jüdischen Frauenkollektiv geplant war.

Fragwürdiger Verbotsbescheid
Eine Kopie des 15-seitigen Verbotsbescheides der Polizei Berlin, der für den 20. Mai von Nakba75 geplanten Demonstration liegt mir vor, in dem auf die aktuelle Situation im Nahen Osten hingewiesen wird. Paradoxerweise, werden Angriffe auf Palästinenser:innen durch israelische Sicherheitskräfte wie im Falle der Al-Aqsa Moschee in Jerusalem, die im Bescheid als “sicherheitsrelevante Vorfälle, Zusammenstöße, Auseinandersetzungen” beschrieben werden, oder die israelischen Luftschläge auf Zivilist:innen in Gaza, bei denen die Bezeichnung der rechtsextremen israelischen Regierung “Militäroperation [Schild und Pfeil]” übernommen wurde, als Narrative benutzt um vor deren Hintergrund palästinensische Kundgebungen und Proteste zu verbieten.
Die anhaltende Gewalt der Siedler:innen gegen Palästinenser:innen, insbesondere die anhaltenden Pogrome wie etwa in Hawara oder der faschistische Flaggenmarsch in Jerusalem finden im Verbotsbescheid der Berliner Polizei keine Erwähnung. Auch befremdend ist, dass die palästinensische Nakba im Schreiben häufig in Anführungszeichen gesetzt wurde.
Darüber hinaus wurden “vergleichbare Versammlungen”, die größtenteils mehrere Jahre zurückliegen, erwähnt, bei denen einzelne Ausrufe zitiert wurden; neben antisemitischen Äußerungen wie “Tod den Juden” und “Juden=Kindermörder” wurde auf nicht-antisemitische Aufrufe wie “Allahu Akbar” “Boykott Israel” und “Free Free Palestine” verwiesen, die als “deutlich militant” dargestellt wurden.
Bei einer Demonstration im Mai 2021 stützte sich die Berliner Polizei in ihrem Verbotsbescheid auf einen Artikel der Tageszeitung Die Welt, die für ihre einseitige und pro-israelische Berichterstattung bekannt ist. Es wurde ebenfalls beschuldigt, dass “Organisationen bzw. Initiativen” wie BDS, Palästina Spricht, die Jüdische Stimme und berlinleft unter dem international verbreiteten Hashtag #Nakba75 zur Teilnahme an der Versammlung auf den sozialen Medien aufgerufen hätten.
“Rassistisches Framing”
Aber das umstrittenste, was im Verbotsbescheid mehrfach angemerkt wurde, war die mögliche Teilnahme “emotionalisierter junger Personen aus der palästinensischen, arabischen und muslimischen Diaspora”, die “strafbare Parolen skandieren und verbotene Symbole zeigen” würden, und “gewalttätiges Handeln nicht abgeneigt” seien. Was von Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen in den sozialen Medien als rassistisches Framing scharf verurteilt wurde.
“Mit der friedlichen Massen-Demonstration in Berlin zum Nakba-Tag 2021 haben palästinensische, jüdische, deutsche und internationale, solidarische Menschen bewiesen, wie die Palästina-Solidarität in den letzten Jahren wächst. Diese Solidarität gefährdet das deutsche Narrativ, das die Sicherheit Israels zur Staatsräson erklärt.” kommentieren die Aktivist:innen von Nakba75 die Verbote der Versammlungen und machen deutlich: “Weil die Solidarität wächst, wird die Repression stärker. Die rassistischen Ausführungen in den Verbotsbescheiden gegen die Demonstrationen unterstreichen das”.
Sie weisen darauf hin, dass die Beschreibungen der Polizei von einer jungen, emotionalen, radikaleren Gruppe mit Migrationshintergrund und einer etwas moderater Gruppe, die einer intellektuellen Klasse von Studierenden zugeordnet sei, ein gezielter Mechanismus ist um den Widerstand als infantil, ungebildet und emotional darzustellen. Zudem soll dadurch ein Keil zwischen die verschiedenen Gruppen getrieben werden, um deren politische Analyse und Strategie zu delegitimieren.
Überwachung, Einschüchterung und Polizeigewalt
Das palästinensische Kulturfest, das am 13. Mai am Hermannplatz in Neukölln stattfand, erlebte laut mehrerer Zeugenaussagen eine unverhältnismäßige Polizeipräsenz. Ungewöhnlich für ein Kulturfest wurde das ganze Geschehen streng überwacht und damit gedroht, dass jegliche politische Komponente als eine Ersatzveranstaltung für die verbotenen Versammlungen interpretiert wird und dementsprechend die Veranstaltung aufgelöst wird. Die Verkaufsstände wurden regelmäßig und gründlich kontrolliert, Flyer und Poster wurden entfernt und Reden gänzlich untersagt. Sogar der Auftritt eines Sängers wurde nach zwei Songs mit dem Vorwand, seine Texte seien politisch, abgebrochen. Selbst der palästinensische Volkstanz Dabke blieb ebenfalls nicht verschont, als Besucher:innen des Kulturfestes von der Polizei beim Tanzen gehindert wurden.
Die einzige genehmigte Versammlung war eine Kundgebung der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost gemeinsam mit anderen jüdischen Gruppen wie Jewish Bund am 20. Mai, um die Nakba zu gedenken. Diese wurde jedoch von der Berliner Polizei gewaltsam aufgelöst, wobei mehrere jüdische und palästinensische Aktivist:innen festgenommen wurden. Ein Sprecher der Berliner Polizei behauptete, dass 80 bis 100 “Palästinenser-Anhänger” die Kundgebung auf dem Oranienplatz massiv gestört hätten und erklärte: “Dolmetscher und Sprachmittler der Polizei stellten fest, dass es zu antisemitischen Parolen aus der Gruppe heraus kam. Unsere Einsatzkräfte mussten eingreifen und die Störer von der Versammlung ausschließen“.
Dem widersprechen sowohl die Gruppe Jewish Bund in einem Video-Statement als auch die Jüdische Stimme in einer öffentlichen Stellungnahme kategorisch, was auch Udi Raz, Vorstandsmitglied der Jüdischen Stimme mir gegenüber bestätigt: „Unsere Kundgebung war die einzige öffentliche Versammlung in Berlin, die von der Berliner Polizei nicht verboten wurde. Entsprechend waren auch palästinensische Aktivist:innen anwesend. Im Laufe der Kundgebung hat uns die Polizei gefragt, ob bestimmte Gruppen von der Kundgebung ausgeschlossen werden sollten. Als Organisator:innen haben wir eindeutig Nein gesagt, alle Anwesenden sind hier willkommen. Kurz darauf stürmte die Berliner Polizei in die Menge und hat angefangen, mehrere palästinensische und jüdische Aktivist:innen brutal zu schlagen und zu verhaften“.
Auf die Frage, ob überhaupt antisemitische Parolen skandiert wurden und was diese gewesen wären, antwortete Raz:
„Die Begründung der Polizei für ihre eigene Gewalt war, dass Aktivist:innen Palestine will be free, from the river to the sea gerufen hätten. Wir als Jüdische Stimme, erkennen in diesem Ruf gar keinen Antisemitismus wieder, sondern im Gegenteil; wir stehen hinter dieser Logik, wonach alle Menschen, die zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer leben, die gleichen Rechte haben müssen“.
Ob demnächst pro-palästinensische Versammlungen, vor allem nächstes Jahr um den Nakba-Gedenktag, in Berlin wieder stattfinden werden, bleibt offen. Sicher ist aber, dass Palästina Solidarität in der Öffentlichkeit der deutschen Hauptstadt von der Politik nicht gesehen werden will.
Edited by: Dan Weissmann OnlyDans